Romane
Ein Roman ist laut Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki ein Stück erzählende Prosa von wenigstens 200 Seiten Länge. So unscharf diese Definition auch ist, ist sie wohl doch die beste, die wir haben. Der Versuch einer genaueren Eingrenzung wird nahezu zwangsläufig einige Spielarten dieser vielfältigen Disziplin ausschließen.
Ich möchte daher nur einige Stichpunkte nennen, die für mich die Qualität eines Romanes ausmachen:
- Sprachliche Eleganz: Der Autor muss die Sprache, in der er schreibt, nicht nur grammatikalisch und orthografisch sicher beherrschen, sondern auch stilistisch ansprechend einsetzen können, wozu unter anderem ein ausgedehnter und abwechslungsreicher Wortschatz gehört.
- Sprachliche Angemessenheit: Die für den Roman gewählte Sprache muss der Handlung angemessen sein. Heroic Fantasy muss sich archaischer lesen als ein Märchenbuch. Andererseits bin ich kein Verfechter der Überlegung, die Romanfiguren unbedingt so sprechen zu lassen, wie sie sich in Natura ausdrücken würden – das geschriebene Wort wird anders wahrgenommen als das gesprochene.
- Stilsicherheit: Sprachniveau und Duktus sollten innerhalb eines Werkes nur dann wechseln, wenn dies durch inhaltliche Brüche notwendig ist. Bei Shakespeare etwa spricht selbst der letzte Gossenschläger in wohlgesetzten Versen – alles andere würde die Wirkung seiner Dramen herabsetzen.
- Romantypische Motive: Jede Erzählform hat ihre Stärken. Der Film beispielsweise vermag visuelle Dinge hervorragend zu inszenieren. Explodierende Häuser, Degengefechte zu rasanter Hintergrundmusik – so etwas wird schnell langatmig, wenn man ihm im Roman zu viel Raum zumisst. Geschmack, Geruch, Tastsinn kann man dagegen besser in einem Roman beschreiben. Während ein Film irgendwo zwischen 90 und 120 Minuten landen muss, hat man bei einem Roman praktisch keine Längenbeschränkung, solange man nicht langweilig wird. Auch die Anzahl der auftretenden Figuren kann beinahe beliebig gesteigert werden, wie die Werke russischer Autoren belegen. Dafür sind allerdings Gespräche, an denen drei oder mehr Personen beteiligt sind, echte Hürden, weil man als Leser nicht sieht, wer gerade spricht. Kurz: Der Autor muss wissen und berücksichtigen, was in einem Roman geht und was nicht.
- Innere Logik: Nicht nur für fantastische Romane gilt, dass der Kosmos, in dem die Handlung sich abspielt, eine innere Stringenz aufweisen muss. Die Kunst liegt darin, dies zu berücksichtigen und zugleich den Fehler der Überkonstruktion zu vermeiden – in jeder noch so logischen Welt muss es Platz für Zufälligkeiten geben.
- Keine Grenzen: Anne Rice schreibt geniale Romane. Aber sie sind bereits geschrieben. Wenn ich einen anderen Autor lese, möchte ich nicht eine kopierte Anne Rice vorfinden, sondern etwas Originelles. Das Abenteuer beginnt jenseits des Bekannten – jenseits der bekannten Handlung, jenseits der bekannten Schemata. Ich will, dass mich der Autor überrascht – dazu gehört insbesondere das Prinzip »Kill your Darling« (»Töte deinen Liebling«), also die Tugend, die Sympathieträger nicht unter Naturschutz zu stellen.
- Figurentwicklung: Wenn die Hauptfiguren am Ende eines Romanes noch genauso sind wie am Anfang, liegt der Verdacht nahe, dass auch sonst nicht viel passiert ist.
Alles oben Aufgeführte und noch mehr lässt sich zusammenfassen unter der einzig wichtigen Regel: NICHT LANGWEILEN! Ich kann einem Buch vieles verzeihen, aber nicht, dass es mich langweilt.
Vielleicht wundert es Sie, dass in meiner Aufzählung nichts über die tiefere Bedeutung von Romanen auftaucht, über ihre lebensverändernde Wirkung. Ich halte es hier mit dem Sänger Herbert Grönemeyer, der in einem Interview sinngemäß sagte: »Klar, ab und zu hat man so einen Hau. Dann meint man, man hätte der Welt irgend etwas Besonderes zu sagen. Zum Glück habe ich aber Freunde, die mich bei solchen Anfällen dann ganz schnell wieder auf den Boden holen.«
Natürlich geben Bücher vielen Menschen Orientierung. Meines Erachtens liegt das aber in viel stärkerem Maße am Leser und seinem biografischen und sozialen Hintergrund als an dem, was der Autor in die Geschichte hineinlegen wollte. Beispielsweise gibt es ein Stück von Bertolt Brecht, das stalinistisch intendiert ist, jedoch aus heutiger Perspektive in überwiegendem Maße anti-stalinistisch rezipiert wird. Größer könnte der Gegensatz nicht sein – und das bei einem der fähigsten deutschen Autoren.
Einige meiner Romane habe ich veröffentlichen können: